Donnerstag, 18:00 Uhr: Nach nunmehr 9 Stunden ist die vorletzte Etappe meiner Alpenüberquerung dem Ende entgegen gegangen und ich liege kaputt aber sehr froh auf meinem Bett im Hotelzimmer.
Auch heute will ich Interessierte wieder an meinen Erlebnissen teilhaben lassen und hoffe, ich kann die Eindrücke so beschreiben, dass sich auch derjenige etwas darunter vorstellen kann, der kein Fahrrad fährt oder auch noch nicht in diesen Regionen der Alpen unterwegs war.
Um 09:00 Uhr haben wir das nette Hotel in Livigno verlassen. Leider viel zu früh, da ich gestern angesichts meiner späten Ankunft dort gar kein leckeres Eis aus dieser tollen Lateria gegessen habe. Schade, aber natürlich habe ich auch heute früh nicht im Traum daran gedacht, vor unserer Fahrt noch nach einem leckeren Eis Ausschau zu halten. Wir sind los, aber wohin? Zur Mottolino Seilbahn. “Ach, jetzt fahren die schon wieder Seilbahn, die sollen doch die Berge hoch strampeln..”. So oder so ähnlich mag der ein oder andere jetzt denken. Der Grund dieser Annehmlichkeit ist leicht erklärt. Wir wollten den Höhenweg von Livigno in Richtung Tresenda nehmen. Und dazu hätten wir 600 Höhenmeer Meter eine Straße mit viel Verkehr fahren müssen, oder eben die Seilbahn nutzen können. Letzteres ist sicherer und so entschieden wir uns bis auf Martin, der noch fahren wollte, für die Seilbahn.
Oben angekommen ein herrliches Panorama. Rechtsseitig der Livigno See, hinter uns der Blick in Richtung Trelaalpe und den Trail, den wir gestern so schön heruntergefahren sind. Linksseitig konnte man in Richtung Bernina Gruppe schauen. Die Sonne scheint, nur das Knattern eines Hubschraubers störte ein wenig. Es war frisch. 10 Grad Celsius. Die Jacke also an, um sie nach einigen Höhenmetern, die wir noch bergauf fahren mussten, wieder abzulegen.
Der Weg war ein feinster Trail. Nicht gerade entlang einer Höhenlinie, sondern bergauf und bergab. Aber eben schön zu fahren. An einigen Stellen ging es rechtsseitig steil bergab. Ich hatte noch in Erinnerung, dass gestern in Südtirol ein Mountainbikefahrer tödlich abgestürzt sein soll. Das muss ich ja nun nicht haben.
Nach dem Höhenweg ging es dann bergab. Entlang eines rauschenden Flusses ging es über Stock und Stein zwischen Nadelbäumen entlang. Ein wahrer Genuss für einen Mountainbikefahrer. Doch alles Schöne hast ein Ende und so kamen wir irgendwann wieder im Tal an. Um nachfolgend zum Furcola di Livigno, also dem Pass an der Grenze zur Schweiz, aufzufahren. Auch hier gab es zwei Möglichkeiten: Straße oder den Talweg. Ersteres ist wieder gefährlich (ich bin das letztes Jahr gefahren und es machte keinen Spaß) also entschieden wir uns für den Talweg. Nicht so Andreas, der die vermeintlich einfachere Variante wählte, weil es ihm heute nicht so richtig gut ging.
Wer meint, dass ein Talweg unten im Tal lang geht, der hat sich geschnitten. Ich schrieb das schon einmal in Ischgl. Es ging auch hier mal hoch, mal runter, mal hoch mal runter bis es dann am Ende irre steil nach oben ging. Frag nicht nach Sonnenschein. Den hatten wir zwar auch, aber so viel sei verraten: mein Herz pumpte auf höchster Stufe, die Lunge hat sich selten so schnell mit Luft gefüllt und wieder entleert und meine Beine sind an die Leistungsgrenze gekommen. Aber ich bin ohne zu schieben hoch gefahren. Das gelang noch anderen, aber längst nicht jedem. Also war ich stolz wie Oskar und so eine Leistung verdient natürlich eine Belohnung. Die gab es auf dem Pass beim Mittagessen in Form von Pizzoccheri. Kohlehydrate pur und die brauchten wir auch nach dem Mittagessen. Es ging in Richtung Berninapass. Man kann das auf der Straße fahren – das hatten ich jetzt schon zwei Mal beschrieben- und auf einem einsamen Trail hoch über den Köpfen der Autofahrer auf der Straße. Wofür wir uns entschieden haben, muss ich wohl nicht mehr erwähnen.
Und die Entscheidung war exzellent. Robert meinte, dass das einer der schönsten Ausblicke in den Alpen sei. Er benannte es als “ganz großes Kino”. Ich sage: “Vergesst Hitchcock, vergesst Spielberg und sonstige Regisseure”! Das war das beste Kino, das ich meinen Urlauben in den Alpen gesehen habe. Das Wetter passte auch. Die Sonne brannte vom Himmel und die Temperaturen war herbstlich moderat. Es war also nicht nur großes Kino, es war größtes Kino. Früher hat man immer mit Cinemascope für besondere Kinoeindrücke geworben. Das hier war Cinemascope in den Alpen.
Ich will nicht vergessen, dass die 200 Höhenmeter auch anstrengend waren. Denn es ging über einen Singletrail, der sehr mit Steinen versetzt war. Linksseitig ging es teilweise steil herunter (einmal schob ich aus Sicherheitsgründen) aber wenn man die Passstraßen so klein unter sich sieht, linksseitig und rechts wunderbare Berge und vor uns da Berninamassiv mit dem Piz Palü, dann ist das einfach umwerfend.
Wir erreichten den Berninapass, wo schon ein Bus älterer Leute stand. Eventuell muss ich später auch mit dem Bus in die Alpen fahren, weil ich nicht mehr Auto fahren kann. Aber dann kann ich mich immer an die schönen Eindrücke des heutigen Tages erinnern!
Und das waren noch nicht alle. Wir fuhren vom Bernina hinunter in Richtung Pontresina. Nicht auf der Straße, das ist mittlerweile selbstredend, sondern am Anfang verblockte, später recht geschmeidige Trails. Kurz vor Morteratsch jedoch war unser Weg versperrt. Also umdrehen und wieder bergauf fahren? Da hatten wir wahrlich keine Lust am fünften Tag unserer Fahrradtour. Also fuhren wir einen etwas gewagteren Trail Richtung Bahnhof Morteratsch. Wenn das Frank H. liest: Sehr viel anspruchsvoller als Kaiserweg und Salzstieg zusammen. Und ich habe es gemeistert, ohne abzusteigen oder zu fallen. Bolle könnte nicht stolzer sein. Einmal wäre jedoch fast gestürzt. Ich bin über einen Felsen, wollte das Lenkrad runter drücken und hinter dem Felsen kam eine Kuhle, die in den nächsten Felsen überging, den ich nicht sah. Meine Federgabel hat ganze Arbeit geleistet und dank akrobatischer Gewichtsverlagerung, die ich eher reflexartig gemacht habe, als bewusst, gelang es mir dann doch, das Gleichgewicht zu halten. Aber auch dieser Trail war ein Erlebnis besonderer Art.
Am Bahnhof Morteratsch angekommen, bot uns Robert an, noch bis zum Morteratschgletscher zu fahren. Letztes Jahr war der Weg noch gesperrt, aber dieses Jahr konnten wir rein. Wir haben also gesagt, dass wir die 100 Höhenmeter noch auf uns nehmen wollen, Denn in diesem Tal kann man eindrucksvoll sehen, wie sich der Gletscher in den letzten 100 Jahren zurück entwickelt hat. Und das war beeindruckend! Im Jahre meiner Geburt war der Gletscher locker 400 Meter länger. Wie lange der Gletscher überhaupt noch besteht, bleibt abzuwarten. Im Hintergrund war noch der Pilz Palü zu sehen, bevor wir umdrehten und über den Bahnhof der Rhätischen Bahn auf schönen Waldwegen nach St. Moritz zu rollen. Hinter Pontresina ging es mehrfach hoch und runter, aber das Ziel war in Sicht.
Während die Truppe in Richtung Silvaplana fuhr, kaufte ich mir noch schnell den unvergessenen Hirschsaslsiz, den ich mal in meiner Jugend essen durfte. Ich freue mich jetzt schon, wenn ich ihn nächste Woche verspeisen kann.
Morgen geht es über Maloja in Richtung Comer See und die Tour neigt sich dem Ende. Ein bisschen traurig bin ich schon, weil es einfach so schön ist und war. Aber ich freue mich auch, weil ich ja auch ein Leben neben dem Fahrradfahren habe. Und das ist auch ganz spannend und toll..
Ich berichte morgen noch einmal und abschließend dann noch einmal am Wochenende. Bis dahin alles Gute und Grüezi miteinander, wie man hier sagt..