Neuland

Wenn ich heute den Januar Revue passieren lasse, dann fällt mir ein Wort ein, mit dem die Bundeskanzlerin Merkel im Jahr 2013 deutschlandweite Medienpräsenz und -schelte bekommen hat. Wir erleben Neuland mit der derzeitigen Virusinfektion. Das ist normal und verständlich. Und wir erleben Neuland bei organisatorischen Maßnahmen rund um das Thema Impfen, bei dem eben nicht alles Neuland sein dürfte. Doch fange ich einmal von vorne an.

Es geht vielen meiner Freunde, Bekannten, Kollegen, Familienangehörigen nach ihren Bekundungen ähnlich. Die mittlerweile 10 Monate anhaltende Sondersituation belastet. Nicht gleichbleibend, sondern mal mehr oder mal weniger. Aber sie belastet. Und zwar emotional. Es gibt große Sorgen um die berufliche und wirtschaftliche Zukunft. Es herrscht Unsicherheit, bei vielen in der Bevölkerung, wie lange der eigene Arbeitgeber wohl in der Lage ist, die wirtschaftlichen Einschnitte noch zu verkraften. Wer weiß das schon?

Und auf der anderen Seite nehme ich Unzufriedenheit, Dünnhäutigkeit und Gereiztheit wahr. Das ist sicher auch kein Wunder, es fehlen die Freunde und der Austausch. Meine einzigen sozialen Kontakte -die arbeitsbedingten Videokonferenzen berücksichtige ich jetzt mal nicht- sind die Besuche beim Bäcker, Fleischer oder im Supermarkt. Aber mich belastet mich die Situation um Kontakteinschränkungen nicht so sehr.  Warum? Weil ich einige Dinge erwartet habe und somit nicht häufig enttäuscht wurde.

Der Virus und der Umgang damit ist Neuland. Niemand weiß so richtig, welches der richtige Umgang damit ist. Und da habe ich maximales Verständnis, dass mal etwas nicht so funktioniert, wie wir es uns vorstellen. Es ist ja ein stetiger Abwägungsprozess und ich erwartete und erwarte auch für die Zukunft, dass nicht alles glatt läuft. Und ich weiss, dass die Erkenntnisse und somit auch Maßnahmen von gestern nicht die von heute und morgen sein müssen. So ist das mit wissenschaftlichem Fortschritt. Wir betreten halt Neuland und akzeptieren das besser.

Doch gibt es auch etwas, was ich nicht als Neuland bezeichne. Und die ist gut an der Impfsituation in Deutschland, Niedersachsen und meiner Heimatstadt Goslar zu erläutern. Schauen wir uns einmal die Erwartungen an die Impfungen an. Im Dezember: „Hurra, der Impfstoff ist da“. Jetzt geht es los mit den Impfzentren, die aus dem Boden gestampft worden sind. Corona wird besiegt. Und was kam danach? Enttäuschung und daraus resultierende Unzufriedenheit. Die Hoffnungen auf den Impfstoff, auf schnelle Impfungen wurde offensichtlich ungerechtfertigt genährt. Von der Politik und auch den Medien. War das fahrlässig? Muss es nicht jedem klar sein, dass Produktionen von hochkomplexen Medizinprodukten, Injektionsnadeln, Glasgefässe und Verschlüsse nicht von heute auf morgen von 0 auf 100 hochgefahren werden können? Die normale Medizinproduktion läuft ja weiterhin. Ich glaube, dass die schwierige Entwicklung in Produktion und Logistik voraussehbar gewesen ist.

Hätte das bei der Generierung der Erwartung nicht jedem erfahrenen Journalisten oder Politiker klar sein müssen? Im Arbeitsleben würde man auf ein professionelleres Erwartungsmanagement setzen. Wo war die Anlaufkurve? Durchaus eine pessimistische, mit der man mal den realistischen oder ggf. sogar schlechtesten Fall des Anlaufs kommuniziert? Dann wären nicht so viele Erwartungen geweckt und Enttäuschungen vermieden worden. Ich denke, dass viele von uns mit Nachrichten, die nicht ganz so positiv sind, umgehen können. Jedoch nicht damit, dass die Erwartungen erst hochgeschraubt werden und dann nicht erfüllt werden.

Artikel Goslarsche Zeitung vom 03.02.2021

Worüber ich auch enttäuscht bin, denn das habe ich nicht erwartet, ist die Schlechtleistung der Exekutive und auch Legislative. Jetzt mag der ein oder andere Aufschrei kommen.

Ich nehme einen Artikel der heutigen Regionalpresse mit der Überschrift “Schneller und schärfer reagieren” als Vorlage und sage “Schneller und besser agieren”. Ich will das erklären: Auf meinen dienstlichen und privaten Reisen ins Ausland habe ich immer wieder gehört, wie sehr meine Freunde, Bekannten und Arbeitskollegen neidvoll auf eine Fähigkeit blickten, die uns Deutschen häufig zugeschrieben wird. Genauigkeit, Korrektheit und gute Planung. Präzision! Wo sind diese Eigenschaften in dieser Krise? Erleben wir gerade, dass diese doch positiven Eigenschaften in der derzeitigen Situation wohl eher als Fehleinschätzung abgestempelt werden müssten? Zumindest wenn ich das Fiasko der Impfsituation sehe, verfestigt sich der Eindruck bei mir.

Wer mag mir erklären, dass zumindest bei mir in der Umgebung Impfzentren erst im Oktober/November quasi „hau-ruck“ geplant und aus dem Boden gestampft worden sind? Man könnte den Eindruck haben, dass wir hier herrlich von April/Mai bis Oktober/November geschlafen haben. Also eher der Eindruck des fehlenden frühzeitigen agierens.

Das Gleiche gilt für die nun problembehafteten Vergaben von Impfterminen. Server brechen zusammen, Telefonleitungen sind dem Ansturm nicht gewachsen, die Exekutive auf Landesebene ist überfordert. 700.000 Anrufe in einer Stunde, so berichtete das Gesundheitsministerium. Ist es nicht klar, dass so ein Ansturm -der meines Erachtens zu erwarten war- nicht eher dezentral zu verarbeiten ist? Gehört es nicht zum normalen Projektmanagement sich auch einmal den Worst-Case anzuschauen und in potentielle Lösungen einfließen zu lassen? Wahrlich kein Neuland, sondern Erfahrung.

Zeigt nicht gerade die dezentrale Technik des Internets seit Jahrzehnten, dass die Verteilung von Ressourcen zu Stabilität und Verfügbarkeit führt? Und wenn man sich schon für eine zentrale Terminvergabe also zentrale Ressourcen entscheidet, warum nutzt man dann nicht in meinem Bundesland Unternehmen, welches sich auf derartige Systeme spezialisiert sind? Denn die gibt es! Ich habe den Eindruck, dass hier nicht hinlänglich analysiert und entschieden wurde. Von der Kommunikation ganz zu schweigen.

Ein zweites Beispiel der Schlechtleistung ist die Erkenntnis, dass wir im Januar -10 Monate nach Pandemiebeginn- immer noch nicht in der Lage sind, die Hotspots in den Altenheimen zu verhindern. Das RKI sprach davon, dass sie am 22.01. von 900 Ausbrüchen in Alten- und Pflegeheimen wissen. Es wurde darum gebeten „Bitte lassen Sie sich impfen, wenn Sie die Möglichkeiten dazu haben“. Wäre es nicht so traurig, könnte man Realsatire vermuten? Angesichts der Impfdesasters ist diese Aussage ja schon fast ein Hohn. Ein Großteil will sich impfen lassen. Auch und gerade die ältere Bevölkerung. Aber auch die junge Bevölkerung, die im Übrigen ja auch das Bruttosozialprodukt weiter erwirtschaften muss. Doch warum wurden erst im Januar die Maßnahmen für Seniorenheime noch einmal verstärkt, wo das doch die Risikogruppe Nummer 1 ist? Der Lockdown ab Dezember war doch schon sehr einschneidend. Warum hat man die gleiche Konsequenz eben nicht bei Maßnahmen rund um die Seniorenheime gezogen? Zum Wohl unserer älteren Bevölkerung. Und auch zum Wohl der Bevölkerung, die jetzt berechtigterweise Angst um ihre berufliche Existenz hat. Für mich einfach unverständlich! Aber gut, dass jetzt schnell und scharf reagiert werden soll (s.o.)

Genauso unverständlich ist für mich, warum in Niedersachsen prozentual nur knapp halb so viel Menschen bezogen auf 1000 Einwohner bezogen geimpft wurden, als in Mecklenburg-Vorpommern. Für mich ist das schon eine Indikation, dass in meinem Bundesland nicht gerade die beste Leistung abgeliefert wird. Unterschiede im einstelligen Prozenbereich würde ich noch verstehen, aber knapp 90% mehr Impfungen in einem anderen Bundesland ist doch sehr verwunderlich.

Zusammenfassend hätte ich mir gewünscht und tue dieses auch für die Zukunft, dass realistische Erwartungen geweckt werden. Eher etwas pessimistischer als zu optimistisch. Dann können Erwartungen nicht zu sehr enttäuscht werden. Ehrlichkeit und eine langfristige Perspektive geben und zeigen ist sicher wichtiger kurzfristige Effekthascherei und Aufmunterung, die dann genauso schnell wieder enttäuscht wird. Und ich erwarte mir in unserer Landespolitik und -verwaltung nachvollziehbare und gute Entscheidungen sowie Maßnahmen, die ich im Augenblick leider nicht so häufig sehe. Aber gut, das schnell… ah, da waren wir ja schon einmal (siehe oben)

Schluss jedoch mit kritischen Fragen und Beurteilungen. Denn im Januar gab es auch viele positive Eindrücke und Erlebnisse für mich. Und das mag bei einer zunehmenden Schwarz-Weiss Sichtweise, bei der in meinem Umfeld immer weniger differenziert beurteilt wird auch für viele Mitbürger Neuland sein: Es gibt Positives in der Krise!

Ich habe mehrfach die herrliche Winterlandschaft genießen können. Nach einigen Jahren hieß es in Goslar wieder richtig Schneeschieben. Da bekommt das Wort “Paarshippen” doch eine ganz andere Bedeutung. Und ja, die Natur scheint ja im Trend zu sein. Die Natur wird wieder besucht. Bei meinen Wanderungen im Harz traf ich den ein oder anderen Zeitgenossen, der auch die herrliche Winterlandschaft genießen wollte. Und ähnliches kenne ich schon aus dem Frühjahr, Sommer und Herbst. Nie zuvor habe ich so viele -auch junge- Menschen wandernd in der Natur getroffen. Und das ist eine Chance für den Harz und für uns alle.  Nutzen wir die Chance richtig? Nun, auch dazu habe ich mir hier schon Gedanken gemacht. Wie auch immer, ich bin dankbar, die Natur vor der Haustür erleben konnte und vor allen Dingen, dass ich weiterhin gesund bin. Denn das ist auch nicht selbstverständlich.

Der Januar endete für mich mit einem besonderen Highlight. Einem weiteren positiven Erlebnis. Meine erste Mountainbiketour in der Nacht. Hoch zum Brocken. Es war ein Wochenende der Wetteränderungen.

Regen am Freitagvormittag, dann Eisregen am Nachmittag, der zu wunderschönen Eindrücken im Garten führte.

Dann keine 2 Stunden später Tauwetter. In der Nacht wieder Schneefall. Und genau zum richtigen Zeitpunkt wurde es kalt und wolkenlos. So, dass ich bei kühlem Wetter über griffigen Schnee zum Brocken aufbrechen konnte. Ich berichtete ja schon an anderer Stelle über die Tour.

So endet mein Monatsrückblick Januar 2021. Trotz vieler negativer Meldungen, die mich -wie oben beschrieben- teils auch ärgern, gab und gibt es auch immer positive Eindrücke. Und die dürfen wir nicht vergessen, sondern müssen sie wertschätzen. Somit beende ich meinen Januar-Rückblick mit dem Wunsch: Bleibt gesund, geht in die Natur und schraubt Eure Erwartungen nicht zu hoch. Erfreut Euch an den positiven Eindrücken und Momenten. Dann werdet ihr auch so schnell nicht enttäuscht und bleibt eher zufrieden.