Wer hätte gedacht, dass ich in diesem Jahr überhaupt nach Ischgl fahren würde? Wenn mir das jemand im März gesagt hätte, hätte ich ihn oder sie wahrscheinlich für verrückt erklärt. Doch heute war es soweit. Ich habe es getan. Und, um es gleich vorweg zu nehmen, ich habe mich sicher gefühlt. Die Menschen waren sehr rücksichtsvoll, vorsichtig und überall waren motivierende Schilder, dass jeder für sich und seine Familie sowie sein Verhalten selbst verantwortlich ist. Gesagt getan, leider gibt es ja immer noch Mitmenschen, die nicht daran denken, dass ihr Verhalten auch andere Menschen negativ -sprich durch Krankheit- beeinflussen können. Und auch durch rücksichtsloses Verhalten weiterhin unserer Wirtschaft schaden können. Doch hier in Ischgl, war das heute anders wahrnehmbar. Anders wahrscheinlich als im Frühjahr. Aus Fehlern wird man klug – hoffentlich.
Doch warum Ischgl? Nun, heute wollte ich die 3. Etappe der ulp-Tour Garmisch-Comer See abfahren. Und die führt nun einmal von Ischgl in Tirol nach Scuol im Unterengadin. Es gibt zwei Wege von Ischgl in Richtung Scuol, die mir bekannt sind. Der erste führt über das Fimbertal, an der Heidelberger Hütte vorbei um über dem Fimberpass den Weg in die Schweiz. Vorbei an der schönen Alpenwirtschaft Tanna di Muntanella in Griosch, um weiter über Sent in Richtung Scuol zu kommen. Das ist die Etappe des Medium Levels, die ich jetzt mehrfach gefahren bin. Heute sollte es jedoch die Etappe des Light-Levels sein. Und ich nehme es gleich vorweg: Sie ist fahrtechnisch keinesfalls herausfordernd, wie die Medium Tour. Aber von der Anstrengung steht sie dieser in nichts nach. Ich hatte zwischenzeitlich großen Respekt vor Claudia, die die Route letztes Jahr gefahren ist. Gerade der Weg nach Tschlin hat es doch in sich. Doch dazu später mehr.
Fangen wir wieder von vorne an: Nach einem frühen Aufstehen ging es mit dem Pkw nach Ischgl. Kurz vor Landeck erwischte uns ausgiebiger Regen. Der Himmel war grau in grau und eine Regenwolke lag neben der anderen. Meine Stimmung näherte sich nicht dem Nullpunkt, war nicht im äußerst positiven Bereich. Wollte ich bei dem Regen fahren? Eigentlich nicht. Die Temperatur hätte auch höher sein können. In der Höhe, die ich zuerst mit einer Seilbahn erfahren wollte, waren es 2 Grad Celsius. Nicht gerade das, was man von Sommerurlaub erwarten würde. Und so war mein Gesichtsausdruck, der fotografisch in der Seilbahn sehr gut festgehalten worden ist, im Nachhinein nachvollziehbar. Warum mache ich das heute? Warum nicht an einem anderen Tag? Nun, weil es mein Plan war. Und eigentlich liebe ich es ja, wenn ein Plan funktioniert. Und er funktionierte.
Denn der Regen hörte auf, ich verabschiedete mich noch von Claudia, die mich heute Nachmittag in Scuol wieder abholen wollte und fuhr mit dem Sessellift von der Idalpe hoch zum Flimsattel. Oben angekommen, das obligatorische Startfoto. Vor dem Ischgl-Logo. Unscharf, aber was soll es. Ich war schon positiver gestimmt, obwohl ich ja wusste, was mich die nächsten Minuten erwartete. Eine Steigung nach der anderen. Zuest fuhr ich locker, überholte noch drei Mountainbiker, bis ich dann auch -wie sie- abstieg. Alleine das Schieben den Berg hoch war anstrengend. Warum? Corona? Nein! (ich hoffe zumindest, dass nicht). Es ist die Steigung und die Höhe. Knapp unter 3000 Metern ist die Luft eben doch nicht mehr so stark mit Sauerstoff versorgt, wie im heimischen Goslar. Ich ging, ich fuhr, ich schob und fuhr dann irgendwann auch bergab. Vorsichtig, weil es rutschig war. Immerhin hatte ich nach 15 Minuten schon 1,4 Kilometer geschafft. Boa Espekt. Da radeln ja meine Enkelkinder schneller. Na, wenn das so weiter geht… Es hatte ja wie wild geregnet.
Und so fuhr ich vorsichtig fahrend am Salaaser Kopf vorbei, um die Bergabpassage in Richtung Zeblas Joch in Angriff zu nehmen. Knapp 900 Höhenmeter bergab bis nach Samnaun lagen vor mir. Am Zeblasjoch sah ich eine Bank. Eine Schweizer Bank. Nicht die zum Geldabheben, sondern eine zum Sitzen. “Eine Schweizer Bank an der Grenze als Symbolfür ein geeintes Europa”. So soll es hier Wolfgang Bosbach gesagt haben. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich schon in der Schweiz war. Aber das Grenzschild mit der Aufschrift “Österreich” war eindeutig. Ggf. war ich auch immer noch beeindruckt von dem -wahrscheinlich holländischen- Ehepaar, welches mir entgegenkam. Zuerst sah ich ein E-MTB auf dem Weg liegen, knappe 100 Meter später sah ich einen Mann, der ein weiteres E-Bike schob und freundlich meinen Gruß “Servus” erwiderte. 30 Meter hinter ihm seine vermutliche Ehefrau, ohne Bike. Dafür in schickem Sportdress in turkis, mit dem man zur Damengymnastik oder auch zur Physiotherapeutin gehen würde. Aber keinesfalls eine Mountainbiketour in hochalpinem Gelände wagen würde. Ich stellte mir die Frage, wie häufig die beiden wohl solche Touren schon gemacht haben. Ich tippe, dass das nicht häufig der Fall gewesen sein könnte. Denn sonst wären sie besser ausgestattet gewesen. Alleine den Weg mit dieser Ausstattung und E-Bike hoch zu fahren zeugt nicht davon, sich der Gefahren im Gelände bewusst zu sein. Mögen die Akku-Reserven auch noch bis zum Ischgler Grenzkamm reichen. Wie wollen die beiden den Weg bergab fahren? 900 Höhenmeter bei feinem Schotter rufen schon nach etwas Erfahrung und Fahrtechnik bzw. Brems Know-How. Wie auch immer.
Ich hoffe, dass zunehmende Unbedarftheit nicht weiter dazu führt, dass die Bergretter zunehmend am Limit arbeiten. Letztlich gehöre ich ja auch zu denen, die schon einmal Hilfe des Bergrettungsdienstes in den Dolomiten in Anspruch nehmen musste. Ist halt ein nicht ganz ungefährliches Hobby, das Mountainbiken. Nun, ich fuhr vom Zeblasjoch weiter in Richtung Samnaun und durch Samnaun hindurch. Es war schon beeindruckend, wie viele Menschen in der Frühe -es war mittlerweile 11:30 Uhr- in dem Zollparadies auf den Beinen waren. Ich verließ Samnaun, welches sich allerdings nicht so negativ in meinen Kopf eingebrannt hat, wie Ischgl. Letzterer Ort ist für mich nur hässlich. Und Claudia berichtete von einer Diskussion im Radio heute, wo Tourismusmanager aus Österreich besprachen, dass Corona eine Chance sei, weg vom Massentourismus zu gehen. Ich frage mich nur, wie das gehen soll, wenn man die vielen Investitionen in Infrastruktur und Hotels sieht. Das muss sich doch irgendwann armortisieren… Ach was, das ist nicht mein Problem.
Mein Problem auf dem Weg von Samnaun herunter nach Martina (Grenzort Österreich-Schweiz) war ein anderes. Ich verfuhr mit trotz Navigationssystem drei Mal. Aber darum ging es mir ja auch. Wenn ich die Etappe irgendwann mit Gästen für Ulp führe, dann will ich den Weg kennen und mich nicht verfahren. Und wie heisst es so schön? Aus Fehlern lernt man. Ich hoffe, dass mir das heute gelungen ist. Also ging es weiter tendenziell bergab in Richtung Martina. Kleine Gegenanstiege waren schon dabei, aber letztlich mussten auch hier wieder 700 Höhenmeter vernichtet werden. Es war viel Asphaltstraße dabei. Einen anderen Weg gab es nicht. So fuhr ich durch mehrere Tunnel und Gallerien, um die Grenze in Martina nach genau 2:30 Stunden (also um 12:40 Uhr) zu erreichen.
Eine kleine Pause zum Essen und Trinken war nötig und auch ein Wäschewechsel war sinnvoll. Die Softshell Jacke hatte schon in Samnaun den Weg in den Rucksack gefunden. Nun ging es dem langärmigen Shirt ebenso und auch den langen Handschuhen. Kurze mussten her. Sowohl Handschuhe als auch das Trikot. Und die Knielinge, die meine Beine bei der Abfahrt wärmten, durften auch in den Rucksack. Denn die Sonne kam heraus. Schöner konnte der Weg entlang des Inns hier im Unterengadin nicht sein. Sonnenschein, angenehme Temperaturen und so ging es einige Meter weiter. Bis, ja bis die Steigung begann. Auf 7 Kilometern 530 Höhenmeter bis nach Tschlin. Das war der Weg, der nun mein Trikot durchnässte. Ich wurde damit ja nicht leichter, nur bewegte sich mein Schweiß von der Hautoberfläche in mein Trikot, wo er blieb. Es wurde warm, aber nicht heiß. Das wird eine brutale Strecke sein, wenn es wirklich heiss ist. Denn Schatten wird es dort nicht viel geben. Trotzdem ist der Engadiner Höhenweg eine Reise wert. Es ist einfach schön, so 500 Meter über dem Inn das friedliche Alpenpanorama zu genießen. So kam ich irgendwann in Tschlin an.
Wer kennt schon Tschlin? Ich kannte es bis vor 3 Jahren nicht. Aber hier haben mal wieder die Schweizer etwas erfunden. Genauer gesagt, die Bewohner von Tschlin. Es gab eine wunderbare Werbekampagne, die auch in den sozialen Medien viral ging. Enfach mal den Spot anschauen . Und als ich in Tschlin, diesem verschlafenen Ort mit seinen knapp 400 Einwohnern ankam, so war ich nicht der einzige Tourist. Die Dorfbrauerei hatte viele Gäste und im einzigen Hotel am Platze war auch etwas los. Von der fotografierenden Asiatin ganz zu schweigen. Es scheint funktioniert zu haben, das Telefon von Tschlin. Ich machte auch einige Fotos, denn die Häuser sind schon einen Eindruck wert, bis ich mich wieder auf die nächste Teilstrecke in Richtung Ramosch machte.
Es ging weiter bergauf. Noch einmal knappe 200 Höhenmeter durch die grünen Wiesen, ein Wurzel-Singeltrail bergauf, um dann noch eine 10 minütige Schiebepassage einzulegen. Nun war ich fast ganz oben. Und ich war durchgeschwitzt. Die Fliegen, die auf der Kuhweide sonst immer um die Kühe herum fliegen, hatten es nun auf mich abgesehen. Nervig war das schon. Und da kam es wie gerufen: Das tote Eichhörnchen auf dem Weg. Schon etwas verwest, aber hier mussten sich die Fliegen doch wohl fühlen. So machte ich in 30 Metern Abstand Pause. Ich wollte für die bevorstehende Abfahrt noch ein Unterhemd anziehen, denn so war mein Trikot zu kalt. Doch meine Vermutung entpuppte sich als Blödsinn. Die Fliegen blieben bei mir und hatten gar kein Interesse an dem toten Eichhörnchen. So zog ich mich schnell um, um dann auch recht fix den Berg herunter zu rasen. So hatte ich die Fliegen abhängen können und erreichte bald wieder den Inn, nachdem ich in Ramosch (einem ebenfalls kleinen Unterengadiner Ort) noch am Hause der Familie Kohl vorbei fuhr.
Ich klingelte nicht. Wer will schon buckelige Verwandschaft unangemeldet sehen? Zumal es ja ggf. gar keine Verwandschaft war, sondern nur zufällig der gleiche Name, der an einem typisch Engadiner Haus an der Tür stand. Im schönsten Sonnenschein ging es nun weiter in Richtung Sur En, einer kleinen Siedlung unten am Inn. Von hier geht auch das Uina Tal, welches zur bekannten Uina-Schlucht führt ab. Doch das interessierte mich heute nicht. Erstens bin ich dort schon einmal hoch und einmal runter gefahren und zweitens wartete Claudia ja in Scuol auf mich. Also musste ich die letzten 8 Kilometer entlang des Flußverlaufs des Inns in Richtung Scuol radeln.
Der Inn hatte nicht allzu viel Wasser geführt, aber die Frische durch das Wasser war schon gut zu spüren. So radelte ich entspannt am Umspannwerk kurz vor Scuol vorbei, wo die Werbeanzeige andeutete, dass man hier “am Stromnetz der Zukunft” arbeiten würde. Eine nette Schweizerin kreuzte joggend meinen Weg. Gruezi, welches mit einem freundlichen Gruezi Wohl erwidert wurde und schon ging es auf die letzten 3 Kilometer. In Scuol angekommen musste ich vom Inn wieder in die Höhe zur Dorfmitte. Und in genau 5:39 Minuten habe ich 64,5 Kilometer und 1370 Höhenmeter mit meinem Radl hinter mich gebracht. Es war ein toller Tag.
Claudia hatte nicht so früh mit mir gerechnet. Und so war das Eis gerade gegessen, als wir uns trafen. Im Übrigen das teuerste Eis in Claudias Leben. 3 Kugeln für 8 Euro 80 Cent. Obelix würde sagen “Die spinnen, die Römer.” Ach nee, die Schweizer. Denn das bleibt schon zu sagen, die Preise hier sind schon beeindruckend. Und das nicht im positiven Sinn.
Nun noch einige Fotos vom heutigen Tag